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Elementor #1199

Vom Zweifel

 

Vom Zweifel – oder vom Fangen können.

Jeder Mensch besitzt die ihn lebenstragenden Werte seines verstand- und vernunftgetragenen Selbstgeworfenen Doch dazwischen wirft uns im genau gekonnten Schwung alltäglichen Lebens und Wirkens unser Geschick stets frisch zu lösende Probleme zu. Unser Leben und Wirken, ja unser Dasein, ist – im Grunde genommen – ein problematisches. Vieles ist fraglich, unentschieden, abwägend und zweifelhaft. Alles von uns selbst oder von außen Vorgelegte, Aufgaben oder Fragen, müssen beurteilt und entschieden werden. Manches davon löst sich gekonnt reflexiv oder aus erfahrener Erfahrung. Doch bleibendes Ungeklärte bedarf reiferer Überlegung aus dem Feld vorliegender Möglichkeiten nach den Regeln des geordneten Bedenkens, welches grübelt und zweifelt. Und aus dieser bildenden Kraft des Zweifels, ob dieser seinem Grund nach – innen- oder außenbezogen – dahergekommen ist – folgen Entscheidung und Entschluss. Und in diesem Spiel ist  Fangen können ein Vermögen! – Soweit zum obigem Wandermotiv.

Zum Zweifel

Wer in seinem Leben hat nicht schon einmal gezweifelt. Sei es in dringlicher Form, sei es in rationalen Zwecken. Am geschicktesten lassen sich Gegebenheiten vom Gegensätzlichen her erläutern. Denn der Zweifel hat einen Gesellschafter, wenn nicht einen Widersacher. Dieser nennt sich die Überzeugung. Diese zweifelt nicht mehr. Sie ist Bestand einer festgezurrten Setzung. Denn eine Überzeugung pflegen ist nur ein Glaube, der den Zweifel nicht mehr kennt. Sie ruht im ungestörten Bestand einer unreflektierten Haltung und felsenfest von etwas überzeugt sein nimmt an unangreifbarer Überzeitlichkeit teil. Sie besitzt demnach eine mentale Verschleißfestigkeit, welche sich äußerst resistent gegen diskursive Störungen zeige. Ihr Besitzer sieht sich im Rang eines Beharrungsvermögen des Unbezweifelbaren. Er berauscht sich an eigener Überzeugung und hört nicht schallen die Wirklichkeit. Wer kenn das nicht? Doch Vorsicht ist geboten, wenn im Diskurs divergierendes Überzeugt-Sein aufeinandertreffe! Je dauerhafter ein Mensch von etwas überzeugt ist, so unweigerlich wie unbewusst nistet dieses sich ins Habitat der Seele ein und nun sind an einem entsprechenden Meinungsaustausch Gefühlsbewegungen beteiligt. Affekte begleiten die eigentliche Sache und das Gespräch. Trifft nun das Thema beim Partner auf divergierende Ansicht, so kann anfänglich so unvoreingenommene Gespräch zum emotionalen Desaster werden, weil der Boden beiderseitig vorausgesetzter Rationalität von langfristig abgelagerten Überzeugungen stets kontaminiert ist. Weltsichten sind nun mal anders verteilt.

Doch Zweifel hier – Überzeugung da. Dazwischen steht die Meinung. Und sie folgt dem Grundsatz:

 

Keine persönliche gebundenen Meinung kann nicht durch sich selbst zerstört werden – vielmehr strebt jede Meinung in ihrem Sein auf unbestimmte Zeit zu verharren. Denn das Zweifeln ist immer in soziale und biografische Zusammenhänge eingebettet.

 

Ein Mensch bewertet etwas und wird auf diesem Urteil so lange beharren, bis sich dieses durch neu ergebende Einflüsse ändere. Deswegen besitzen auch Meinungen ein erstaunenswertes Selbsterhaltungsstreben und man beobachtet darin ebenso ein solides und ausdauerndes Standvermögen. Im Bannkreis dieser Regel und festgefahren im beharrenden Zirkel eines ungestörten Überzeugt-Seins und Meinens kann man sich gut vorstellen, dass hier nun ein gewisses Erlösungsbedürfnis besteht – von dem oft und merkwürdigerweise – nur der Betroffene zumeist nichts weiß. Doch sei an dieser Stelle angemerkt. Dieses Exposé spricht nicht von jenen Überzeugungen, welche innerhalb des alltäglichen Daseins und Arbeitens die lebenssichernde Praxis existenziellen Werte und Haltungen einer Person tragen und sichern. Greift auch nicht in deren Signatur einzuhaltender sozialer und ethischer Grundmuster. Denn sofern diese vorhanden, gibt’s hier nichts zu bezweifeln. Sie werden als zweifelsfrei vorausgesetzt. Doch darüber hinaus? Haben und Sein. Zweifel haben ist Zustand – zweifelnd sein aber ist eine wirkende elementare Kraft im Prozess Vom Wissen zum Erkennen zu lösender und zielführenden Entscheidungsfindungen.

Denn:

Alle Dinge sind verschränkt in vielfältigen Strukturen und Systemen.

Wissen geht in die Menge – aber Verstehen in die Tiefe!

Außerdem ist der erkennende Mensch, ob er erkennt oder nicht, stets ein Teil des Geschehens; seine Sicht ist deshalb beschränkt.

Stets braucht es eine Metaebene als System eines übergeordneten Überblicks mit ständiger Rückkopplung zum Wissen.

Was nun könne einen Menschen aus selbstbezogenem Beharrungszustand erlösen? Es ist nichts anderes als der Zweifel. Zu zweifeln! Wann setzt der Zweifel ein, wo setzt dieser an? Was ruft ihn hervor? Statt diesen Einzelfragen nachzugehen, definiert sich hierfür ein gemeinsamer Tatort. Es ist die Unsicherheit von zu- und anhaltenden Bedingungen in vorliegenden Verhältnissen oder in anliegenden Zuständen nach Belang und ihrer Sache.

Wer in diesem Feld also zweifelt, arbeitet grundsätzlich an einem selbstbewirtschafteten Wertzuwachs, damit er über die Zeit seine bestmöglich Lösung finde. Oder aber: Jede Stufe eines Zweifelprozesse treibt die Idee zum vorläufigen Resultat. Dabei wird ihr Potenzial freigelegt oder verworfen. Doch auch Verwerfen einer Idee ist wertschöpfend, da früh enttarnt – was späterhin unerkannt eine Verschwendung wäre. Ein Zweifel trennt zunächst vorliegendes Problem von seinem starren Gefüge – bewusst entlasse ich meine Sache in eine Fragwürdigkeit – und suche in anderen Bindungen ihre Lösung.

Zunächst möchte ich die sonderbare Behauptung, das etwas Trennendes verbindet, aufklären, denn das genau vollbringt der methodische Zweifel, welcher in seinem Tun ein Kritischer ist.

Was in Wissenschaft der Wahrheitsstatus einer stets sich bestätigenden Regel ist, ist in Empirie und Praxis der Bewährungsgrad. Sicherster Bewährungsgrad entsteht aus lebendig gepflegtem kritischen Selbstzweifel oder aus dem konstruktiven Diskurs Beteiligter, der nie eine resistente Selbstgefälligkeit einzelner zulässt. Zweifel ist die große Kunst, Widersprüche in produktive Spannung umzuwandeln.

Aber  man achte auf den Umschwung von Wertschöpfung zur Verschwendung. Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen zu treffen, als ständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird. Denn erstens kommt es anders – und zweitens als du denkst!

Der Zweifel bringt ein Stattdessen hervor, weil alles Fragen eine Zukunft entwirft – denn an Gewesenem ist produktiv nicht mehr zu zweifeln – die Vergangenheit ist abgeschlossen. Der Zweifel arbeitet also perspektivisch und eine Perspektive haben heißt, einen sich überschreitenden Horizont aufmachen, was erkenntnistheoretisch bedeutet: Er trennt zunächst erkennendes Subjekt vom Objekt – er gewinnt erforderlichen Abstand und entlässt seine Sache bewusst in eine Fragwürdigkeit, um überhaupt in der Immanenz des sich Vorgestellten ein Draußen finden zu können. Der Zweifel ist also, kurz gesprochen, die Lösung der Berührung mit dem Seienden und daher – die Wiederentdeckung von Möglichkeiten – und überhaupt – Möglichkeit zu haben, ist eine absolute Grundbedingung von Freiheit.

Der Zweifler stellt seine Sache frei dem zugelassenen Wettbewerb von eventuell konkurrierenden Ideen, von unterschiedlichen Erfahrungen und Kenntnissen, von individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten und in kritischer Abarbeitung ergibt sich wahrscheinlich eine bewährte These. Kritik und Zweifel sind hochdialektische Prozesse.

Es ist schade, dass der im 15. Bis 17. Jh. von den Scholastikern noch verwendete Begriff für Kritik im Sinne von – wertend, streng prüfend, feststellend – in der 2. Hälfte des 19. Jh. eine redensartliche Abwertung in der Bedeutung als – Beanstandung, unter aller Kritik – usw. – erfuhr. Kritik an einer personengebundenen Sache oder deren Meinung zu üben, wird heute durchgängig als negativ empfunden – ist für das betroffene Ich schlichtweg eine Zumutung – man zweifelt an seiner Person! [1]Das wiederum führte dazu, dass der aus, und vom – kritischen Gehalt lebende und wirkende Zweifel – ebenfalls eine gewisse Geringschätzung erfahren hat.

Doch Kritikfähigkeit auch als Kritiknehmigkeit zu interpretieren – Skepsis nicht als die Zerstörung von Zustimmung zu definieren – den Zweifel, den eigenen und den anderer zu tolerieren, und zum Schluss – Sich selbst nicht zu verabsolutieren ist und bleibt eine wertbildende Tugend. Denn Nicht-zugelassener Zweifel wird früher oder später in illusionären Erwartungen landen – also in Erfahrungsverlust. Was aber ist Erfahrung anderes als das Dementi der Erwartung durch das Veto der Realität?

Die Ordnung absoluter Wahrheit ist außerhalb unser, jenseits menschlicher Erkenntnis. Umso mehr sind wir darauf angewiesen, dass das, was tatsächlich sich bewähren soll, nur aus einer skeptischen Haltung sich konstituiere.

Bewährung durch Synthese! – Zwischenstützpunkte zum Erfolg. Soweit zur versprochenen Aufklärung, dass etwas Trennendes verbinde.

Der Skeptiker weiß zu trennen, dass praktische Üblichkeiten als Erfahrungshorizont nicht theoretischen Vorurteilen entstammen. Im Denken und Planen können wir alles finden, erfinden, selbst das, was die Realität uns verweigern wird – ja muss, weil echte reine Bewährung im Weltwirklichen hieße – selbst unbedingt zu sein, um die Totalität aller ihrer Bedingungen zu beherrschen. Deshalb gilt für heutige geltende Wahrheitsfindung die sogenannte Konsenstheorie:

Größtmögliche, objektiv herstellbare Wahrheit ist nur das, worauf sich mehrere Subjekte ‚gerade noch‘ einigen können.

Der Verlauf der Wissenschaften beweist dieses Theorem. Kritisch betrachteten bis etwa ins 20. Jhd. hinein u. a. Aristoteles, Kopernikus, Galileo, Newton, Einstein u.v.a.m. ihre Welt. Ihre Skepsis und Zweifel am Vorhandenen führte zu ihren fundamentalen Entdeckungen. Sie waren Einzelwissenschaftler. Unsere modernen Entdeckungen sind zumeist das Ergebnisse kollektiver Arbeit am gleichen Problem, in welchem sich separate Erforscher austauschen müssen. Ohne Kritik und Zweifel am je Jetzigen wäre wissenschaftlicher Fortschritt nicht möglich. (siehe Konsenstheorie).

Über alle Zeiten haben Menschen am Vorhandenem gezweifelt. Mit kritischen Impulsen und mit ihrer Idee eines Stattdessen hinterfragten sie den Zustand der Dinge. In neu auftauchenden Qualitäten vermittelte methodisch geführter Zweifel zu höhere Seins-Stufen. Wäre es nicht so, lebten wir auch heute noch in der Stunde-Null.

Ingo R. H. Treuner / 08.2023

www.ingotreuner.com

[1] Stichwort Identitätsangriff-Diskriminierung. In diesem Fall ist derzeitig vielgepriesene Vielfalt plötzlich out of order

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