Goyas: Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Von Cynderjan 13.05.2022
Klischee ist ein treffendes Vorurteil. Es ist eine Schablone für eine angesprochene Sache / Bei Nationalcharakteren wird es zu einem gängigen personifizierten Vorstellungsbild. / Entlang Goyas Bildwerk «Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer» wird dessen Idee hier aufgegriffen und ist im historisch-politisch Sinn wahrhaftig.
Hinweise auf die Handelnden
Goya ist Spanier und Maler des Schlafes der Vernunft
Marianne: Frankreichs Symbol des Nationalcharakters
Michel: Deutschlands Symbol des Nationalcharakters
Jan Bull: Britanniens Symbol des Nationalcharakters
Der Bär: Russlands Symbol des Nationalcharakters
Westeuropäische Gemeinschaft: EU, besonders EZB
Goyas: Der Schlaf der Vernunft
Da gibt es doch Goyas berühmte Serie von Radierungen, nämlich die „Caprichos“; so um 1800 erschienen. Eines dieser Blätter führt den Titel „Der Traum (Schlaf) der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Doch gebiert-geboren setzt gezeugt voraus. In Goyas „traumhafter“ Supervision muss es sich wohl um einen kulturell involvierten veritablen Beischlaf gehandelt haben. Mit wem also schlief die Vernunft?
Oh! Die Kirschen in Nachbars Garten sind die besten, grenzen doch Goyas Spanien und Frankreich langleiblich aneinander. Französisch Marianne, nicht abgeneigt, strippt Trikolore ab und hurtig geht ins Bett spaniennachbarlicher Vernunft. Doch ahnend, was Goya deutlich nannte und nun angerichtet ward, wenn abartig skurrile Geschöpfe das Licht der Welt erblicken, muss man diese Zeugungslust zügeln, um sie beherrschen zu können. Dies erkannt, war man genötigt, etwaigen Erzeugnissen dieses kruden nachbarlichen Liebesspiels eine, mit monarchischer Macht ausgestattete öffentliche Gewalt entgegenzusetzen. Denn lediglich auf diese Weise konnte man das Monster im Zaume halten. Schnell musste gehandelt werden.
Hinter dem Horizont der Zeit verschwanden nur zwei Jahre, als in großer Schau und mit Mordsspektakel am 10.11.1802 im Grand Palais öffentlich die Vernunft inthronisiert, oder genauer formuliert, ermächtigt wurde zu herrschen. Zwar erkannt, doch noch zeitlich weit wie fern. Aber geadelt die Vernunft unter königlicher Duldung gebot sie von Stunde an über das lauernde Ungeheuer. Aufklärerisch aufgeladen, so wähnte man, marschiere die Vernunft in ihre sichere Zukunft. Doch ist gesellschaftlicher Resonanzraum wie ein Sandkasten, in dem man nach paar Brotkrümelchen suche, denn mentale Umrüstzeiten in vielen Köpfen erfordern viel viel Zeit und meist nur in Dauer kurzer historischer Längen. Während Marianne, nun im unruhigen Schlafe nachrevolutionärer Konvulsionen unter aufgedrängtem Kriegsgeschrei, mit der Vernunft einigermaßen klarkam, währte im Osten noch nachbarlicher Tiefschlaf gleich einem Koma. So schrieb jedenfalls unser Heinrich Heine. Doch bald kam Marianne wieder zu Kräften und hielt mit zart erwachter Leidenschaft nun nach neuen Liebhabern Ausschau.
Lassen wir sie noch ein Weilchen schauen und stören deren aufkommende zarte Triebe nicht. Auch aus sittsamen und anstandsmäßigen Gründen enthalten wir uns ihren intimen Näherungen und pausieren zugunsten unseres ihres ruhig dahinpulsierenden Kreislaufs. Innerhalb des Literaturbetriebes nennt man diese Weise schöpferische Pause kommender Textfassung. Es ist die Variante des Anschleichens. Ruhig Blut! Oh! Holde Hoffend auf die Gemeinschaft kommender Vernünftigen. Was ist die Macht der Namen und Sachen, der Worte und Zeichen, gegen die Stimme der Zeit!
Aber dann. Mariannes erwachende Gefühle entflammter Vernunft lodern höher. Mit geblähter Trikolore feurigen Windes segelt ihr Blick nach Osten. France et Allemagne; alte Grenze, Vater Rhein dicht bei dicht. Und? Und? Und siehe da? Dort non Temperament, non Feu, welch unerbaulich‘ Milieu! Das kann nicht wahr sein! Da dümpelt er, der Deutsche Michel, tumb wie immer und treudoof. Perforiert der Geist zu Tage wie stets blank die Tafel dumpf zur Nacht.[1] Welch ein Bild. Impotent der Michel an Geist und Leib, versinkt Marianne in verstörtes Leid. Statt fortzuzeugen die lockende Blüte der Vernunft, entseelt wendelt nieder sich die Marianne neben Michel ins enge Prokrustesbett. Vereint im Traume wie weiland Barbarossas Raben um den Kyffhäuser: … «Er spricht im Schlaf zum Knaben/Geh hin vors Schloss, o Zwerg/und sieh, ob noch die Raben/herfliegen um den Berg.» Leise fügt Rotbart neuerdings hinzu: »Sag‘ mir, gekappt sind Flügel der Vernunft? Zeit, wie eilend schwebst du hin? Sieh‘ doch amputierte Marianne und Buzenmichel, beide fieberzuckend auf der Liegestatt.« – Doch verzückt gemischt die Leiber, beide zeugten entrückt im Traum: Der Schlaf der Vernunft gebiert 1870 tatsächlich erneut Ungeheuer.
Fleischschaffendes Orakel, wie schrecklich wahr sprachst du! Ja, wiederum gekappt sind die Flügel der Vernunft. Noch Tod wund taumelnd aus dem Schoß der Zeit in das Licht der Welt geboren, erscheint das ungeheuerlichste aller Ungeheuer, die monströseste Bestie bisheriger kultivierter Menschenzeit in zwei annähernd weltumspannenden Kriegen von 1914 bis 1945. Dies Riesenvieh brüllte zwar, es wehrte sich nicht, und schlich später sich schlicht in den neuerschaffenen monetären Zoo einer Westeuropäischen Gemeinschaft. Dort frisst dieses Ungeheuer Geld und im Käfig der Schuldenbewirtschaftung sorgt hauptsächlich Michel für immer frisches Futter. In bester Pflege kräftigster Nahrung verwachsen Monster und Wärter nun zu nur einer Gestalt und verweben sich zum nicht mehr auszurottenden Mizell weiterhin geschändeter Vernunft.
Doch da, holde Vernunft im Göttlichen Schein, wiederauferstanden wie neugeboren. Es trat anno zweitausendsechzehn, im Monate Sechs, am Tage dreiundzwanzig, herzu dein weltkluger Held Jan Bull. Vernunft trägt seine Rüstung, Verstand lebt unter seinem Helm und Zeichen zweckvoller Zusammenhänge funkeln auf seinem Schild. Wie glänzt sein Schwert im wachen Geist der Geistesblitze aus Vernunfteshitze. Mutig, tapfer schreitet er herzu. Jan Bull, der Britannier. Nüchterner und idealloser Useful. Geschlagen eine Finte, gezogen deren drei, und erstaunt leckt sich das Gemeinschaftsmonster erste Wunde.
Vernunft ist Stimme der Zeit – sie ruft nach Wahrnehmung real existierender universeller Einzelwerte in praktischer verknüpfter Welterkenntnis: Tanze Kordax Vernunft. Wiederum hat sich das Monstermizell überfressen. Vernunft, im Kleinen wie im Großen, liegt im gequälten Dämmerschlaf und albträumt, es sei gefangen wie Der Panther[2].
Nicht aber … schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf … Schlafe fort, gepeinigte Vernunft – Ein grausamer Bär zieht dich nach Osten. Und schaudernd blickt die Sonne in jenem Tag des 24. Februars des Jahres 2022 hinab. Und wiederum gebiert im Schlaf der Vernunft ein Ungeheuer.
Nur eine kleine Geschichte der Vernunft von Goya über Grand Palais – Berlin – Brüssel/Straßburg – London – Moskau. Dem Demiurgen sei Dank, denn vernünftiges Denken trägt viele Gesichter. Doch Michel, träume tumptreudoof hin, der Funke der Vernunft hat dich kurz erreicht wird aber im derzeit deutschpolitischen Feuer wieder verglühen.
[1] Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen.
[2] Rilke, Rainer Maria: Der Panther
Cynderjan
[1] Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen.
[2] Rilke, Rainer Maria: Der Panther