Roman: Der Prozessor

Rezension

Du meine Güte, alle Wetter! Was für eine abenteuerliche Geschichte!
Sollte der Fall der Mauer nur deshalb so „unfallfrei“ funktioniert haben, weil sich der Gorbi für lange zurückliegende Untat sehr persönlich gerächt hat?
Und sollte der Gorbi tatsächlich ein seit früher Kindheit in der Wolle gefärbter echter Demokrat gewesen sein, der hier – als „Schläfer“ – nur auf seine Stunde wartete, um „Perestroika“: Umgestaltung, Umbau und Modernisierung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Systems der Sowjetunion zu verwirklichen, oder dies zumindest zu versuchen?
Und sollte Jung-Gorbi im zweiten Weltkrieg die Grundlagen dieses neuen philosophisch-demokratischen Denkens ausgerechnet von einem aufrechten deutschen Armeerichter gelernt haben?
Viele Geheimnisse, denen wir in Ingo R.H. Treuners gewagtem Roman „Der Prozessor – Undercover Coup Deutsche Einheit“ nach einem kryptisch-philosophisch-politischen Vexierspiel auf die Spur kommen, das auch sprachlich eine durchaus hoch anspruchsvolle Herausforderung für den Leser bedeutet, der das überkommene Duden-Deutsch aus seiner bisherigen Lektüre gewohnt war.
Auch wird man von Ingo R.H. Treuner stets (wie auch in seinen vorangegangenen Werken) ins philosophische tiefgründig-schwarze Wasser des doch Unergründlichen gezwungen…
Unser herkömmliches Sprachgefühl, auch einige feste Regeln der Grammatik müssen überwunden werden (das kennen wir schon von Ingo R.H. Treuners früheren Schriften).

Plötzlich sehen wir die Geschichte in ganz anderem Licht, die Geschichte der in der DDR untergetauchten RAF-Leute, auch Matthias Rusts abenteuerlichen Kreml-Flug von 1987 und was der wohl mit Gorbi zu tun haben sollte…, die verwobenen Geschichten der Spione und Spitzel hüben und drüben – wir reiben uns die Augen…, die Erlebnisse der schönen Zwillinge in Ost und West und was haben die zwei mit Gorbi zu tun?
Was hat das Ende der DDR beschleunigt, vermutet haben wir es, jetzt wissen wir es – oder etwa doch nicht? Woher kam der Kontrollwahn, war er ein Überbleibsel des Nationalsozialismus oder gar ein Import von Stalin? Interessant, aus einem Gespräch mit Günter Schabowski 2009, (ehemals Chefredakteur des ,Neuen Deutschland‘ und bis 1989 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin, sehr bekannt geworden im unmittelbaren Zusammenhang mit der Maueröffnung): „auf einen MfS-Mitarbeiter kamen etwa 180 DDR-Bürger, auf einen KGB-ler etwa 595 Sowjetbürger, in Polen lag dieses Verhältnis bei 1 zu 1574. Diese Übersteigertheit in der DDR war ein Symptom des Zerfalls“. Schabowski meint, gefragt nach Gorbatschows idealistischen Versuchen, das Sowjetsystem zu reformieren (was den Beweis für die Unreformierbarkeit des Systems lieferte), dieser habe „zwar damit die Vielfalt im Sowjetsystem vergrößert, aber damit eben auch (ungewollt?) nicht nur in der Sowjetunion, sondern in allen Ländern des Ostblocks den Anstoß dazu gegeben, mehr Demokratie zu wagen. Ein Impuls allerdings, der sich – folgerichtig – gegen die Allmacht der Kommunistischen Partei kehrte…. Unter dem Einfluß der von ihm verordneten Lockerungsübungen verflüchtigte sich das kommunistische Sakrament des sogenannten, proletarischen Internationalismus‘ wie Schnee in der Märzsonne. Die Satellitenstaaten drängten nach einem eigenen Spielraum: Nationale Eigenarten, Interessen, Ansprüche, Tradition und Geschichte erwiesen sich als unverdrängbar…“
Was immer wir bisher über die Geschichte der deutschen Einheit gelesen oder gehört haben, die eigentlichen und ursprünglichen Beweggründe für Gorbi werden uns von Ingo R.H. Treuner auf ebenso überraschende wie unglaubliche, beinahe utopisch-irreale Weise erklärt.

Liebe Leser, lest und denkt…