Über Ideologien Meinung als Macht
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- 11. Juni 2024
- Ingo Treuner
Meinung als Macht
Eine Ideologie ist ein subjektives Werturteil, welches im Überbau einer vorgetäuschten objektiven Form die systematische Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens nach seinen Prinzipien durchsetzen will. Heute zeigt sich, dass der historische Anspruch der, aus geschichtlicher Zeit heraus wirkenden Ideologien von universal wirkenden kirchlichen und aristokratischen Mächten und mit der Erfindung der Buchdruckerkunst im Jahre 1440 nicht mehr zwingend durchzusetzen ist. Mit der Drucktechnik verfiel die Bedeutung von naturalgebundenen Tauschwerten wie Gold und Silber durch gedrucktes Papier. Auf diesem aber schreiben und lesen können war ein Privileg weniger, deren Deutungshoheit aber mit Verbreitung texttragender Druckschriften abgebaut wurde. Doch der Macht Verlust von Ideologien setzt sich fort. Neuzeitlich verfiel das Papier als ausschließlicher Informationsträger durch direkte und hochfluide elektronische Informationsübermittlung. Hierheraus bildete sich der neue Totalitarismus von unten! Podcast-Charts. Bürgerlich getragene Demokratie weiten sich in den Massenmedien zum vehement ausgetragenen Liberalismus in kommunal und personal getragenen und gespeisten Netzwerken. Diese zum Teil gesponsert von lukrativen Werbeetats. Die Ideologien eines sich neu erschaffenden Marktes produzieren sich im frei verfügbaren Raum mittels der Information von Jederzeit. Für den Menschen sind die, einst von oben und von außen eingetragenen Ideologien, dahin mittels rigoroser egozentrischer Selbstverwirklichung – Genderismus – Diversity-Kult – Postkolonialismus – Wokeness
Diese Ideologien sind soziale Setzungen und nicht gewachsen aus dem Spiel der Tradition. Maß und Mittel. Im Gegenteil messen sie mit ihren Überzeugungen aus der Retorte die Werte der Tradition neu aus. Jenseits gewachsener Tradition und gesellschaftlichen Errungenschaften setzen Ideologien sich absolut. In diesem Bewusstseinszustand einzige Wahrheit wird aus dieser Sicht alles Abträgliche abgelehnt. Das ist der illustre Markt von persönlichen Meinungsanhängern. Aber je in Summe kommuniziert als einzig wahre Ideologie mit allgemeinem Anspruch von Deutungsmacht auf eigen vorausgesetzter Wahrheitsbasis zum Gruppenzwang oder Followern. Sogenannter Mainstream.
Es bestimmen sich neue Ideologien durch Änderung – Wandel – Reform – bis hin zu gesinnungsreklamierenden Konformisten, Aktivisten- und Straßenrebellionen. Irgendwann wird aus dieser schleichenden Dominanz ein Diktat. In freiheitlich demokratischen Ordnungen bestimmt der Markt von Mehrheiten. Deutlich zeigt sich. Solange menschliche Gesellschaften leben, solange verändern sich ihre systemlenkenden Ideologien. Zeitnah entstanden, sind sie als solche noch unentdeckt, um späterhin erkennbar auch zu steuern. Es lohnt sich, die Ideologie als gesellschaftlich wirkende Grundgröße zu betrachten, denn einmal im Fluss, können die Wissenschaften hier kaum oder nicht mehr eingreifen beziehungsweise steuern. Ideologien mit Zulauf sind in ihrer Zeitströmung als weltanschauliche Ansprüche nicht mehr zu stoppen.
Kritische Betrachtung von Ideologien
In der Entwicklung von Ideen von unten und innen zu einem allseits herrschenden Mainstream einer Ideologie lassen sich Menschen gern verführen, wenn nicht mitreißen. Um hier als einzelner mitzureden zu können, sei es aus vielerlei persönlichen Gründen zwischen mangelndem Selbstwertgefühl, welches in der Außenwahrnehmung nach Anerkennung strebt, bis hin zum sichernden Gemeinschaftserlebnis, entwickelt sich eine Idee. Bequem ist es, sich einer marktgängigen Meinung anzuschließen, als selber zweifelnd darüber zu reflektieren. Vorgefertigter Orientierungssinn schafft Leitmotive und Glaubenssätze und diese streben nach Ordnung und gewähren soziale Sicherheit in sich bietender Gemeinschaft zum allgemeinem Sinnerleben. Diese sind positive Treiber zur Markteinführung von der Idee zur bedingt mehrheitsfähigen Ideologie. Doch im Pool von Ideologien schwimmt «die Leichtigkeit des Seins»[1] im schweren Wasser. Es gibt persönlich wie gemeinschaftlich zu akzeptierende bis hin zu anstrengenden menschenhässlichen Ideologien, welche im Trüben fischen. Gemeinsam ist ihnen in Minderheiten zu beginnen, um gesellschaftlich durchgesetzt sich zu radikalisieren. Parteiprogramme, welche notwendig auch Ideologien sind, jedoch liberal-demokratischen Prinzipien folgen, sind hier ausgenommen. Einmal gesetzt, ist das Wesen von Ideologien eine fast unangreifbare Standzeit zu besitzen. Ein richtungsweisender Stoffwechsel ist ausgeschlossen oder nur mit gesellschaftlicher Gegengewalt zu minimieren. Denn eine Ideologie trägt nicht den Glanz, worauf sie sich wirklich richtet, sondern auf ihre publizierte Wirksamkeit. Erst die Menge ist und bringt ihr Substanz.
Die Berührung mit konkurrierenden Ideologien ist des Geistes tägliches Geschäft. Um hier nicht in schweres Wasser zu geraten, bieten eigene Haltung, gewachsene Wertvorstellungen und Geschmack die besonderen Bedingungen in eigener Konstellation. Es bedarf mentaler Kraft, um in diesem Fundus seinen eigenen Weg zu finden. Reines lexikalisches Wissen sammelt die Menge, aber Verstehen geht in die Tiefe. Sind die Dinge in vielfältigen Strukturen und Systemen auch verschränkt kann nur angebrachter Zweifel übergeordneten Überblick herbeiführen. Zweifel ist die große Kunst, Widersprüche in produktive Spannung umzuwandeln. Doch hat der Zweifel einen Gesellschafter, wenn nicht einen Widersacher. Dieser nennt sich die Überzeugung. Diese ist eine festgezurrte Setzung. Sie bedarf des Zweifelns nicht mehr. Denn eine Überzeugung pflegen ist nur ein Glaube, der den Zweifel nicht mehr kennt. Im ungestörten Bestand einer nun unreflektierten Haltung nimmt die Überzeugung jetzt an einer gewissen Überzeitlichkeit teil. Und dieses – von etwas überzeugt-Sein – besitzt demnach eine mentale Verschleißfestigkeit, welche sich äußerst resistent gegen diskursive Störungen zeigt. Ihr Besitzer gelangt in den Rang eines Beharrungsvermögen des Unbezweifelbaren. Er berauscht sich an eigener Überzeugung und in seinem Leitmotiv hört er nicht schallen die Wirklichkeit. Denn wenn dieser ideologisch Überzeugte seinen Fokus nicht hebt, wird er glauben, er sei der höchste Punkt. Dass man gesprächsweise bei einem Teilnehmenden an den Kern seiner Überzeugung gelangt ist, kann man daran ausmachen, dass er angestrengt oder gar heftig reagiert.
Auch ist ein offener Meinungsaustausch nahezu unmöglich, wenn anderer Teilnehmer seinen Standpunkt moralisiere. Er oder sie vertrete das Gute und Gerechte. Damit erhebt die Gegenseite die Handlungsoption des moralisch Guten und spricht dem anderen in der behandelten Sache diese ab obgleich jene weit jenseits einer ethischen Betrachtungsmöglichkeit. Doch ist ein offener Diskurs kein Kampfplatz. Bestenfalls wende man das Thema oder sich ab. Warum so hart, sprach die Idee zur Ideologie, sind wir nicht nah‘ Verwandte?
Jede persönliche gebundenen Meinung kann nicht durch sich selbst zerstört werden – vielmehr strebt jede Meinung in ihrem Sein auf unbestimmte Zeit zu verharren. Ein Mensch bewertet etwas und wird auf diesem Urteil so lange beharren, bis sich dieses durch neu ergebende Einflüsse ändere. Selbst einer Überzeugung vorspielende Meinungen besitzen oft ein erstaunenswertes Selbsterhaltungsstreben mit einem ebenso soliden und ausdauernden Standvermögen. Im Bannkreis dieser Regel und festgefahren im beharrenden Zirkel kann man sich gut vorstellen, dass hier nun ein gewisses Erlösungsbedürfnis besteht – von dem oft und merkwürdigerweise – nur der Betroffene zumeist nichts weiß. Doch sei an dieser Stelle angemerkt. Dieses Exposé spricht nicht jene Überzeugungen an, welche innerhalb des alltäglichen Daseins und Arbeitens die lebenssichernde Praxis existenziellen Werte und legaler Grundhaltungen einer Person tragen.
Doch bevor man sich in eine Überzeugung wirft, verlasse man nicht die so klare Dialektik des Erkennens. Denn alle Dinge sind verschränkt in vielfältigen Strukturen und Systemen. Der erkennende Mensch, ob er erkennt oder nicht, ist stets ein Teil des Geschehens; seine Sicht ist deshalb beschränkt. Es braucht die Metaebene als System eines übergeordneten Überblicks mit ständiger Rückkopplung zum Wissen.
Den Blick auf das Einzelne als Wahrnehmung (stets). Den Blick auf gesamten Problemhorizont. Das ist die Mitwahrnehmung und Bewandtnis (manchmal). Changierende Wechselwahrnehmung zwischen Problem und gesamtkausalem Problemhorizont (kaum). Oder kurz: Reduktion – Produktion – Indiktion und Deduktion.
Ein jeder Mensch hat lediglich autonome Deutungshoheit für sich selbst. Sie als Ideologie in externe Deutungsmacht zu delegieren ist eigenauferlegter Freiheitsentzug. In historisch entwickelter praktischer Absicht ist heute der lange Kampf um individuelle Freiheit wider jeglicher substanzieller Mündigkeit. Quo vadis?
Ingo R. H. Treuner
II/2024
[1] Milan Kundera
Zum neuen Artkel „Die Ideologie – Meinung als Macht“.
Hey Ingo!
Im 2. Absatz unter Untertitel „Kritische Betrachtung von Ideologien“ muss ab 3-letzter Zeile noch hinzugefügt werden:
– Auch ist ein offener Meinungsaustausch nahezu unmöglich, wenn anderer Teilnehmer den Gegen-Standpunkt moralisiere. Er oder sie vertrete das Gute und Gerechte. Damit erhebt die Gegenseite die Handlungsoption des moralisch Guten und spricht dem anderen in der behandelten Sache, obgleich jene weit weit jenseits einer ethischen Betrachtungsmöglichkeit, diese ab.
Wenn ihnen der themartisch geistige Sauerstoff eng wird argumentiert Gesprächsteilnehmer oft auf diese Weise.
Mit Gruß