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Brief an einen Kritiker

Lieber kritischer Freund,

wie viel Lektüre übersteht ein Mensch, wie viel Literatur erträgt ein Mensch? So frage ich mich als Produzent, wenn die neuen Schriftbögen, fein übereinander frischgedruckt zum Binden auf der Palette liegen; soeben der Presse entbunden. Jetzt, hier in der Druckerei hat mein Werk einen anderen Geruch angenommen, der nicht mehr der meine ist; damit gehört es auch nicht mehr eindeutig mir. Fremd ist es mir geworden und öffentlich. Gehört von nun an den Lesern und unter ihnen ebenso dem Kritiker – dem geübten Tiefenleser. Als beiderseitige Literaturfreunde wissen wir, dass der Kritiker jener besondere Leser ist, der mit begründeter Meinung dem Werk nach Sätzen und Seiten zustimmen, oder es teilweise oder im Ganzen ablehnen wird. Jedenfalls kann er sich dem Text gegenüber nicht als abstinent erweisen. Und wie zeigt er seine Nichtgleichgültigkeit? Er muss zu Schrift und Werk eine Haltung einnehmen. Sich in eine Positur bringen, welche, gleich dem Fundament eines Monuments, kraftschlüssig sich mit Wissenschaft und gelesener Lektüre verbindet. Von diesem Sockel gibt der Kritiker der im Werk vorliegenden geschriebenen Sprache eine neue, nämlich seine Rede. Es ist Ihre Redeweise, lieber Freund und Feind, welche nun Kritik und Werk verbindet und sie so vereint, dass die neue Schrift  sagen kann: »Ich bin Literatur«. So mischen Sie das Werk neu auf, weil es ja, je nach Subjekt und Zeichenfülle, unendlich viele Bedeutungsmöglichkeiten gibt.

In kritischer Tiefenlektüre werden Sie mir feindlich gesinnt werden müssen, denn setze ich die Bedeutungsvielfalt, die ein jeder in jedem Texte notwendig mitliefert, so gab ich damit doch nichts, damit Sie hierheraus neu erfinden; besser, aus voller Leere reproduzieren können. Und wo nichts ist, werden Sie auch den Grund des gesamten Textes nicht erreichen, denn jede Metapher, und eine solche ist auch der intelligible Stoff des Werkes, ist ein Zeichen ohne Grund und Boden. Anders wäre es nicht möglich, buchstäblich ein Buch zu zerspalten und wieder zusammenzusetzen. Sie sind mein Kommentator, der ohne Zweifel, ohne Vorsicht und Rücksicht auslegen wird. Sie werden einen Ton anschlagen müssen, aus dem man eine Haltung zum Werk heraushört. Und nun begegnen Sie einem fürchterlichen Feind, nämlich Ihrer eigenen Redeweise. Hüte sich ein Kritiker seinerseits auf einen Kritiker zu stoßen, denn sollten Sie in Ihrer Haltung zum Buch nicht entschlossen gehandelt und geschrieben haben, wird er es sein, der das abholt, was Sie versäumten. Arbeiteten Sie schludrig, wird er es sein, der durch Ihre Oberfläche hindurch auf den unzerstörbaren Rest meines Werkes stößt und ihn hebt – heraushebt. Er hat tiefer gelesen, länger gebrütet, präziser geschrieben, denn das Werk denkt, was der Mensch lenkt. Der Leser ist stets im Text.

Mit bestem Gruß

Ihr

Ingo R. H. Treuner

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